Forschungscampus M²OLIE
„Hier haben wir Freiraum für Innovationen“
Der Forschungscampus M²OLIE gibt Egbert Janssen und Anna Simeonova-Chergou Zeit, Ideen auszuarbeiten. Zeit, die beide sonst nicht hätten. Sie entwickeln eine Plattform, um ad hoc über Diagnose und Therapie von Krebspatientinnen oder -patienten diskutieren und entscheiden zu können.

Egbert Janssen, 48 Jahre alt, ist Vorstand der Firma Celsius37.com. Das Softwareunternehmen des Medizininformatikers hat sich auf Tumorboards spezialisiert. Dr. Anna Simeonova-Chergou, 43 Jahre alt, ist Oberärztin in der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie am Universitätsklinikum Mannheim. Beide entwickeln am Forschungscampus M²OLIE zusammen ein digitales und agiles Tumorboard für die geplante M²OLIE-Klinik. Dieses Tumorboard soll schneller und flexibler sein. Beide können es kaum erwarten, das Tumorboard im Einsatz zu sehen.
Wie sind Sie zum Forschungscampus M²OLIE gekommen?
Anna Simeonova-Chergou: Jetzt in der dritten Förderphase des Forschungscampus M²OLIE sind wir soweit, dass wir wirklich auch an einem Tumorboard arbeiten können. Das war in den ersten zwei Phasen noch nicht der Fall, da haben wir erstmal die Grundlagen geschaffen. Mein Chef, der Klinikdirektor, der auch im Lenkungsausschuss des Forschungscampus M²OLIE sitzt, hat mich darum angesprochen. Ich habe durch meinen Arbeitsalltag sehr viel Erfahrungen mit Tumorboards gesammelt. Wir haben zusammen überlegt, wie es weitergeht. Eine Kollegin ist bei einem Messebesuch mit Celsius37 in Kontakt gekommen und meinte, die sind doch auch aus Mannheim…
Egbert Janssen: …wir sitzen auf der anderen Seite der Straße, sind also tatsächlich Nachbarn. Darum hat es mich sehr gefreut, dass der Forschungscampus M²OLIE uns angesprochen hat, denn Tumorboards sind ein ganz zentrales Thema für uns.
Digitale Tumorboards sind nicht nur zentral für Sie. Das ist Ihr Geschäft. Inwiefern ist das, was Sie zusammen beim Forschungscampus M²OLIE entwickeln, für Sie neu?
Egbert Janssen: Stimmt. Wir sind Marktführer in Deutschland, was das klassische Tumorboard betrifft. Was hier beim Forschungscampus M²OLIE dazu kommt, ist tatsächlich, dass eben auch ad hoc und agilere Vorgehen in einem Tumorboard gefordert sind. Das reizt natürlich. Da sind verschiedene Ebenen nötig. Zum einen können wir mit einer App unterstützen, so dass nicht immer alle zusammenkommen müssen. Also Technologie spielt eine Rolle. Aber es muss auch Regeln geben: Wir müssen festlegen, dass es täglich zu einer bestimmten Zeit ein Tumorboard gibt, so dass sich die Ärztin oder der Arzt darauf einstellen kann. Gleichzeitig sind wahrscheinlich auch Nachrichten notwendig, damit ich weiß, es geht um meine Patientin oder meinen Patienten und ich sollte teilnehmen. Außerdem müssen die Daten verfügbar sein. Das gilt auch für ein normales Tumorboard. Aber da kann ich eine Woche lang sammeln und mir die Daten ansehen, wenn alle vorliegen. Wir wollen schneller sein. Es darf nicht so sein, dass man ad hoc involviert ist, und plötzlich keiner weiß, wo die Daten herkommen sollen. Oder dass man während einer Sitzung feststellt, dass das MRT fehlt. Das ist der Spagat: Eine gewisse Ruhe und Regeln reinbringen, und gleichzeitig das Ziel verfolgen, schnell eine Diagnostik, eine Biopsie zu haben und dann auch direkt eine Behandlung initiieren zu können, ohne auf das Tumorboard und die interdisziplinäre Besprechung zu verzichten.
Frau Simeonova-Chergou, Sie haben gerade erzählt, dass Sie als Strahlenärztin dabei sind. Was war Ihre Motivation für diese Fachrichtung?
Anna Simeonova-Chergou: Ich bin eigentlich aus einem Missverständnis in die Strahlentherapie gerutscht. Als Studentin wollte ich ein Praktikum bei meiner Familie in Bulgarien machen. Und zwar eigentlich in der Diagnostik, also in der Radiologie. Das habe ich übersetzt. Ich wusste nicht, dass auf Bulgarisch Radiologie Strahlentherapie bedeutet. Als ich dann am ersten Tag dort in der Strahlentherapie stand, konnte ich nicht sagen, hier wollte ich gar nicht hin. Ich habe das dann durchgezogen, und es hat mir so gut gefallen, dass ich in Deutschland dabeigeblieben bin. Man hat einerseits viel Technik und gleichzeitig hilft man wirklich dankbaren Patientinnen und Patienten.
Herr Janssen, Sie haben in Mannheim Wirtschaft und Informatik studiert…
Egbert Janssen: Direkt nach dem Studium habe ich mit Medizininformatik begonnen und seit 2008 beschäftige im mich mit Cesius37 mit Onkologie. Die Onkologie ist für mich deswegen so spannend, weil so vieles zusammenspielt. Dazu gekommen bin ich auch ein bisschen durch Zufall. Aus meiner vorherigen Tätigkeit kannte ich einen Strahlentherapeuten in Bergisch Gladbach. Der sagte mir: „Wir haben Tumorboards, die nicht so gut funktionieren. Da brauchen wir eine Lösung, können Sie da nichts machen?“ So bin ich ein bisschen herein gestolpert. Wenn ich gewusst hätte, wie aufwendig, wie komplex das Thema ist, ich weiß gar nicht, ob ich damals damit angefangen hätte. Aber es macht super viel Spaß. Ich bin froh, dass ich dabeigeblieben bin und in dem Bereich tätig sein darf. Mir gefällt die Interdisziplinarität. Ich habe immer mit verschiedenen Fachleuten zu tun. Je Tumorart gibt es ganz unterschiedliche Teilnehmende am Tumorboard. Außerdem ist die Onkologie ein Bereich, in dem es viele Innovationen gibt.
Was macht für Sie die Arbeit am Forschungscampus aus?
Anna Simeonova-Chergou: Wir sind beide neu im Forschungscampus. Dass wir sehen, wie eine Klinik entsteht, das ist spannend. Auch was alles zusammenspielen muss, damit eine digitalisierte Klinik funktionieren kann und wir am Ende wirklich Patientinnen und Patienten behandeln können. Das erlebt man normalerweise im Alltag als Ärztin oder Arzt nicht. Da schimpft man nur über die IT oder über andere Abteilungen, weil man nur sein eigenes Gebiet sieht. Durch den Forschungscampus sehe ich ein größeres Ganzes. Dazu kommt, dass wir die Möglichkeit haben, selber etwas zu verändern, etwas zu schaffen, was gut für uns und die Patientinnen und Patienten ist.
Egbert Janssen: Hier entsteht ein Netzwerk. Die Wege sind kurz, man diskutiert Dinge, bespricht sich, findet Lösungen, und zwar fachbereichsübergreifend. Die klinische Erfahrung trifft sich mit der Wirtschaft. Es gibt ein Wir-Gefühl: Jeder hat Zeit und auch den Anspruch, sich einzubringen. Dadurch entsteht eine totale Offenheit für Innovation, für Lösungen, die man im Alltag oft nicht hat. Wir als Unternehmen müssen oft ein Release fertigstellen und eine Lösung ausliefern, die der Kunde gekauft hat. Es ist schwierig, einen Freiraum zu finden für Innovationen.
Wenn Sie zwei zusammenarbeiten, wie sieht das praktisch aus? Wie bespricht sich die Strahlenärztin mit dem Informatiker?
Egbert Janssen: Das hat damit angefangen, dass sie gesagt hat: „Komm einfach mal zu unserem Tumorboard, schau dir an, wie das läuft. Was kann man verbessern?“ Das ist eine schöne Gelegenheit, die man nicht immer hat. Wir haben also wirklich Freiraum, Dinge zu überlegen. Das Ergebnis ist nicht – wie manchmal in einem direkten Lieferverhältnis zu einem Kunden – vorab schon definiert.
Anna Simeonova-Chergou: Unser Ziel ist es nicht, dass wir mit der Plattform arbeiten, die sowieso schon existiert. Wir wollen sie so anpassen, dass sie für eine Zukunftsklinik wie die M²OLIE-Klinik funktioniert. Eine Art asynchrones Tumorboard, wo man sich auch im Vorfeld schon Fälle anschauen und seine Meinung abgeben kann, weil gerade Zeit dazu ist, während man in den nächsten zwei Tagen absehbar eher nicht dazu kommt.
Mussten Sie so etwas wie eine gemeinsame Sprache finden? Gibt es Fachvokabular?
Egbert Janssen: Informatikerinnen und Informatiker ticken tatsächlich ganz anders als Medizinerinnen und Mediziner. Ich glaube, da ich länger in der Branche tätig bin, ist es mir gelungen, einen Zugang und eine gemeinsame Sprache zu finden. Aber gerade am Anfang war das schwierig. Da hab ich schnell gemerkt, dass wir unterschiedliche Mentalitäten, unterschiedliche Denkmuster haben. Die Informatikerin oder der Informatiker drückt viel in Bits und Bytes aus. Das heißt, sie oder er denkt in klaren Rastern. Es muss genau spezifiziert sein, wie etwas aussehen sollte und wenn es abweicht, geht es halt nicht. Da gibt es schon Unterschiede.
Anna Simeonova-Chergou: (lacht) Na ja, wir Ärztinnen und Ärzte sind ja nicht einfach, wir wollen alles schnell, jetzt, sofort. Wir sind es gewohnt, schnelle Lösungen finden zu müssen und das erwarten wir auch von anderen. Das ist jetzt der Unterschied beim Forschungscampus: Wir haben Zeit.
Egbert Janssen: Ja, das hilft. Man verbringt Zeit miteinander und dann entstehen auch bessere Lösungen. Die Zeit ist im Alltag sonst nicht immer vorhanden.
Ist das auszeichnend auch für die Zusammenarbeit am Forschungscampus?
Egbert Janssen: Das glaube ich schon. Es gibt viele Veranstaltungen im Forschungscampus. Es kommen viele verschiedene Bereiche zusammen. Dabei ist es schön zu sehen, dass man miteinander ins Gespräch kommt und versucht zu verstehen, was der jeweils andere macht oder warum etwas schwierig ist. Das ist schon sehr förderlich, dass man die Zeit dafür hat. Es erweitert den Horizont, mit anderen Menschen zu tun zu haben. Nicht nur mit Menschen, die gleichgesinnt sind. Im Softwareunternehmen gibt es viele Informatikerinnen und Informatiker. Natürlich hat man da eine gewisse Art und Weise, wie man ein Problem angeht, wie man spricht, wie man diskutiert. Von daher ist es total wertvoll, auch mit anderen Menschen zu tun zu haben, die anders denken, andere Erfahrungen mitbringen.
Sie haben beide gesagt, dass Sie noch nicht lange beim Forschungscampus M²OLE sind. Merken Sie trotzdem, dass Sie was von der Art und Weise von dem Miteinander hier mit zurücknehmen in Ihre jeweilige Organisation?
Egbert Janssen: Ganz klar, ja. Wir sprechen über die Dinge, die gemacht werden müssen. Ich involviere Mitarbeitende in Arbeitspaketen. Ich will auch in der Firma Interesse dafür wecken, Innovationen zu machen und nicht nur das, was täglich auf dem Schreibtisch liegt. Wir wollen Dinge entwickeln, die es noch nicht gibt.
Anna Simeonova-Chergou: Ich werde ein bisschen ungeduldig, weil ich das, was wir hier planen, gerne schon implementieren würde, also in der Klinik nutzen. Man muss sich dann manchmal ein bisschen wieder runterbringen. Aber wenn man sieht, was man verändern kann, ist man neugierig.
Egbert Janssen: Es braucht immer Menschen, die Dinge vorantreiben, die engagiert sind, die auch mit dem Herz dabei sind. Das merkt man bei dir, Anna, wenn du davon erzählst. Ich glaube, es braucht für Innovationen diese Energie, aus dem Herzen heraus, Dinge zu bewegen. Und das findet man am Forschungscampus M²OLIE in sehr vielen, ganz verschiedenen Bereichen.
Wenn wir nochmal konkret auf das Tumorboard – und Ihre Ungeduld – schauen, wo stehen Sie denn? Wann können Sie das implementieren?
Anna Simeonova-Chergou: Der Arbeitsplan sieht vor, dass wir in drei Jahren alles soweit haben, dass wir das auch richtig klinisch testen können.
Können Sie die Kultur am Forschungscampus mit drei Worten beschreiben?
Anna Simeonova-Chergou: Angenehm, manchmal auch angespannt und lustig. Ich finde, wir haben hier Spaß. Angespannt meine ich so, dass wir in der Sache manchmal hart diskutieren, weil wir alle vorankommen wollen. Wir sind alle gleichgestellt, es gibt keine Hierarchie. Deswegen diskutieren wir vieles aus.
Egbert Janssen (lacht und ergänzt): Im Sinne der Sache, um eine gute Lösung zu finden ist das auch wichtig. – Offenheit, Netzwerk und kurze Wege, wären meine drei Worte. Man baut hier ein Netzwerk auf, kennt sich inzwischen. Gerade weil es keine Hierarchie gibt, ist jeder offen, ansprechbar und bereit, sich einzubringen. Ich finde, das ist am Forschungscampus wirklich ausgeprägt.
Anna Simeonova-Chergou: Ich denke, dass Forschungscampi sehr, sehr relevant sind, weil wir dadurch beispielsweise in der Medizin tatsächlich eine Verbesserung in der Patientenversorgung kreieren können. Deswegen finde ich es ganz toll, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung das auch fördert.